2544 Der erste außerirdische Besuch im Sonnensystem

Die Menschheit hat das Sonnensystem besiedelt. Viele Millionen leben im Orbit und auf anderen Planeten. Inzwischen gibt es sogar Raumschiffe mit Überlichtgeschwindigkeit. Und in nur 13 Lichtjahren Entfernung hat man einen Handelsplatz entdeckt, bei dem sich außerirdische Völker treffen. Die ersten Überlicht-Schiffe der Menschheit fliegen dorthin. Der Flug dauert mehrere Monate, weil die Raumkrümmer-Technik noch ganz neu ist.

Ein interstellarer Händler aus dem Volk der Marui, der am Handelsplatz Menschen getroffen hat, beschließt, das Solsystem zu besuchen. Er braucht nur 10 Tage. Aus unserer Sicht hat er ein supermodernes, schnelles Schiff. Er selbst findet es eher klein und alt.

Der Marui kommt aus 60 Grad zur Ekliptik. Saturn ist der nächste Planet. Neptun und Uranus stehen gerade irgendwo auf der anderen Seite des Sonnensystems. Der Marui analysiert während des Anflugs auf den Saturn die Verkehrsmuster und läuft einen der größten Verkehrsknotenpunkte an: das Ibadan-Habitat im Orbit von Titan.

Der Händler kontaktiert die Ibadan-Flugleitzentrale. Er spricht mit automatischem Übersetzer und erkundigt sich nach den Andockprozeduren und lokalen Gepflogenheiten. Die Flugleitzentrale weist dem Schiff eine Andockröhre zu, als ob extrasolare Schiffe alltäglich wären.

Der Flugverkehr im äußeren System abseits der Ekliptik ist nicht geregelt. Ab und zu kommen Fernraumschiffe herein. Aber der interstellare Verkehr ist noch vernachlässigbar gegenüber dem lokalen Verkehrsaufkommen. Der Marui wirkt wie einer der wenigen solaren Fernhändler.

In der Mitte des dritten Jahrtausends ist Kommunikation mit dem Live-Übersetzer allgegenwärtig. Es gibt viele Sprachen im Sonnensystem, und üblicherweise laufen die Kontakte in der Sprache der Flugleitzentrale, in diesem Fall: titan-nigerianisches Hata.

Der Marui dockt an die flexible Andockröhre, wartet wie angewiesen auf das Freigabesignal und öffnet die Luftschleuse. So steht also eine Gruppe von fünf Marui im leichten Schutzanzug im Dock von Ibadan und klopft an die Crystoplast-Scheibe des Dockmeisters.

Der Dockmeister vom Dienst wundert sich über die Schutzanzüge und über das Aussehen der Besucher. Aber ein erfahrener Dockmeister des 26. Jahrhunderts hat schon viel fragwürdiges Gen-Engineering gesehen. Zwischen all den Uplifts, Bio-Mods und Mech-Shells wirken die Marui fast normal. Immerhin laufen sie auf zwei Beinen, was man nicht von allen Null-G-Genhacks der Menschen behaupten kann.

Es schließt sich ein – wieder vom Autoübersetzer vermitteltes – Gespräch an. Dabei wird dem Dockmeister langsam klar, dass die Besucher fremder sind als angenommen. Dann bricht hektische Aktivität los: Der Dockmeister hetzt zurück hinter seinen Crystoplast und alarmiert die Leitzentrale (3 Sekunden), die Bereitschaftstruppe der Einwanderungsbehörde (10 Sekunden) und seine Schwester bei Kronos-News (25 Sekunden).

Nach 50 Sekunden sind die fünf Marui umringt von Kameradrohnen und Polizeibots. Bei 55 Sekunden flickert ein Live-Reporter-Avatar in die Gruppe der Marui hinein. Nach 60 Sekunden erscheinen die ersten Flash-Posts im Netz. Nach 78 Sekunden geht Kronos-News auf Sendung. Nach 85 Sekunden ist ein Relay-Copter von Kronos-News zur Stelle und übernimmt den Live-3D-Feed. Nach 90 Sekunden hat eine mobile Einsatzgruppe im Exoskelett-Kampfanzug die Besucher im Visier. Nach 92 Sekunden machen mobile Absperrungen den Bereich um die Marui-Gruppe dicht. Nach 95 Sekunden versuchen Störsender den Live-Feed zu unterbinden, was nicht funktioniert, da der Relay-Copter rechtzeitig zur Stelle war und von innerhalb der Absperrung sendet.

Die ersten Schaulustigen flickern nach 98 Sekunden als Avatare dazu. Uploads in Mechs sind nach 105 Sekunden die ersten physischen Schaulustigen, die die Szene erreichen. Bios sind nur wenig langsamer.

Nach zwei Minuten ist das Dock voll mit 25 umherschwirrenden Sensordrohnen von 10 Nachrichtendiensten, 15 Polizeibots mit Crowd-Control Ausstattung, sieben militärischen Drohnen, einer fliegenden taktischen Koordinator-KI, 12 mobilen Sperrbots mit transparenten Schilden, 800 Mechs, 120 Bios (davon die vier in Kampfausrüstung, die inzwischen kein freies Schussfeld mehr haben) und 5000 Avataren in allen möglichen Größen und Gestalten, die aber keinen physischen Platz beanspruchen.

Im inneren Kreis tritt eine angespannte Ruhe ein, nur unterbrochen durch die etwas aufdringlichen Versuche des Reporter-Avatars, die Marui zu interviewen.

Weitere eineinhalb Minuten später bahnt sich die Leiterin der zivilen Flugsicherung, Esmeralda Alvarez Velasquez, ihren Weg durch die Menge. Das gelingt schließlich. Sie erreicht den inneren Kreis, wo die fünf Marui etwas zusammengerückt sind.

Ziemlich genau vier Minuten nachdem der Dockmeister die Bedeutung des Augenblicks erkannte, werden die ersten extrasolaren Besucher offiziell begrüßt, live ausgestrahlt durch Kronos-News. Die lichtschnelle Nachrichtenfront umfasst inzwischen das gesamte Saturnsystem mit allen seinen Monden. Der Kronos-Feed wird von anderen Nachrichtenagenturen automatisch angereichert mit Live-Eindrücken vom Spot, Hintergrundinfos und Kommentaren. Das Exa-Level Prioritäts-Tag wird von fast allen Reputationsnetzwerken autorisiert und durchschlägt damit alle Nachrichtenfilter.

Die meisten der zehn Millionen Bewohner im Saturn-System unterbrechen ihre Tätigkeiten, werden geweckt oder gebootet. Sie erleben den ersten Besuch live über ihre Retinadisplays, Implantate und Datenschnittstellen als ob sie vor Ort wären.

Velasquez sagt in der Stationssprache Hata: "Maraba da rana. Kada ka damu." – Das heißt: "Willkommen im Sonnensystem. Kein Grund zur Sorge". Die Redewendung "Kadakadamu" – "Kein Grund zur Sorge" wird über alle Sprachgrenzen hinweg zum geflügelten Wort und Velasquez zum Star der Talkshows.