2326 Der interplanetare Krieg, der nicht stattfindet

Erdnostalgiker im Sonnensystem haben wiederholt versucht, die Erde vom Isolationismus abzuhalten. Danach versuchten sie, die Trennung abzuschwächen, und schließlich, den Isolationismus gewaltsam zu beenden, wie beim Putsch der Weltraumhändler.

Im Jahr 2322 beginnen Extremisten in der interplanetaren Gemeinschaft, Propaganda an die Erdbevölkerung zu senden. Die Übertragungen stammen von einigen Mondbasen und Lagrange-Punkt-Habitaten, die jeweils Tausende von Sendern steuern. Ihr Ziel ist es, die Erdbevölkerung über die Vorteile der Nutzung von Rohstoffen aus dem Weltraum und die vermeintlichen Lügen der Erd-Union aufzuklären. Sie behaupten, die Menschen auf der Erde "verdienen die Wahrheit", während die Unionsregierung die armen "Bodenbewohner" belügt. Über Milliarden Zugangspunkte, die allgegenwärtigen Assistenten und netzwerkfähigen Komponenten auf der Erde, gelangen die Sendungen in die irdischen Netze – trotz der Bemühungen der Regierung, die Isolation aufrechtzuerhalten.

Die Erd-Union empfindet die Propagandasendungen als Verletzung ihrer Souveränität und als Bedrohung des GAIA-Projekts. Als Reaktion kündigt sie an, den Aufbau ihrer Weltraumverteidigung zu beschleunigen.

  • Die größte Komponente des Weltraumkommandos der Union ist die bodengestützte planetare Verteidigung, die sich hauptsächlich um den Schutz der Erde vor Meteoriten und Asteroiden kümmert. Daneben verfügt die Erde allerdings auch über eine wirksame Abschreckung gegen mögliche Angriffe aus dem Raum.
  • Vor allem gibt es auf der Erde beträchtliche Waffenarsenale für Konflikte zwischen Mitgliedstaaten, die auch eingesetzt werden, wie zum Beispiel im Mittelmeerkrieg und im Dritten Amerikanischen Bürgerkrieg. Dazu gehören Zehntausende Atomwaffen und Trägersysteme, die mit der Technologie des 24. Jahrhunderts problemlos auf interplanetare Reichweiten umgestellt werden könnten. Die Durchbruchshilfen dieser Raketen und ihre elektronische Kriegsführung (ECM) sind auf dem neuesten Stand, da sie als aktive Abschreckung gegen andere Mitgliedstaaten der Union im Einsatz sind.
  • Die Schiffe der irdischen Space Patrol sind inzwischen über 50 Jahre alt und in schlechtem Zustand. Abgesehen von einer kleinen Einsatzgruppe von Raumüberlegenheitskreuzern am Lagrange-Punkt L1 ist die Erde derzeit nicht in der Lage, sich jenseits der Atmosphäre militärisch durchzusetzen. Die Schiffe bei L1 sind modern, aber chronisch unterbewaffnet. Da sie die wichtigen Schattenblenden schützen müssen, sind sie in ihrer Beweglichkeit stark eingeschränkt. Die Werften der Erde könnten allerdings mit genügend Mitteln und Zeit mehr dieser leistungsfähigen Schiffe und die zugehörige Munition herstellen.
  • Die riesige Wirtschaft der Erde und ihre große, gut ausgebildete Bevölkerung würden, wenn nötig, eine schnelle Umstellung auf Kriegsgüter ermöglichen. Außerdem gibt es auf der Erde relativ viele Menschen mit praktischer militärischer Erfahrung. Tatsächlich leben auf der Erde mehr Kriegsveteranen als die Gesamtbevölkerung im interplanetaren Raum und auf anderen Planeten zusammen.

Im Gegensatz dazu ist die interplanetare Zivilisation überhaupt nicht auf einen Krieg vorbereitet. Aber sie verfügt über einige Mehrzwecktechnologien, die für Konflikte umfunktioniert werden könnten:

  • Ein Standardwerkzeug der Asteroidenminer sind sogenannte "Piranha" Abbauschwärme, bestehend aus Tausenden Minidrohnen, die ganze Asteroiden auseinandernehmen und auf diese Art auch Infrastruktur beschädigen können. Für Rohstoffsuche und -abbau gibt es außerdem Sprengmittel, von kleinen chemischen Ladungen, die nur Staub für Spektroskopie aufwirbeln sollen, bis hin zu nuklearen Sprengsätzen, die Geröllhaufen-Asteroiden verschmelzen oder künstliche Lavatunnel erzeugen. Aus Sicherheits- und Effizienzgründen werden Sprengungen immer aus der Ferne ausgelöst. Deshalb gibt es genügend Trägersysteme, die man, mit Atomminen bestückt, als Atomraketen bezeichnen könnte. Für einen militärischen Einsatz müssten die Raketen allerdings mit modernen Durchbruchshilfen ausgestattet werden. Schon vor 100 Jahren, in der ersten Unabhängigkeitsbewegung, war diese Ausrüstung ein überzeugendes Argument, und das hat sich nicht geändert.
  • In sonnennahen Umlaufbahnen betreiben kommerzielle Energielieferanten große Spiegelfelder, die viele Terawatt gebündelter Sonnenenergie in einem breiten Spektrum wählbarer Frequenzen an Industriekunden im gesamten Sonnensystem senden. Einige dieser Energielieferanten erzeugen sogar kohärente Strahlung. Mit anderen Worten: im Bereich fokussierter Energie gibt alles, was man sich vorstellen kann, von Megawatt-UV-Lasern bis zu Gigawatt-Hitzestrahlen.
  • Grundsätzlich ist die interplanetare Zivilisation energetisch im Vorteil, da sie im Gravitationsfeld "oben" ist und Asteroiden als kinetische Waffen gegen Ziele auf der Erde einsetzen kann. Jedes Objekt im Orbit, ob groß oder klein, wird zur Massenvernichtungswaffe, wenn man es auf Dutzende Kilometer pro Sekunde beschleunigt. Hat man die Fähigkeit, einen relativ kleinen 30-Meter-Felsen auf 40 Kilometer pro Sekunde zu beschleunigen und damit eine Megatonne kinetischer Energie freizusetzen, dann sind Atomsprengköpfe und Superlaser eigentlich überflüssig.
  • Im Vergleich zur Erde ist die interplanetare Zivilisation sehr klein. Aber sie ist hochgradig automatisiert. Mit genügend Zeit und Mitteln könnten sich Teile der Weltraumwirtschaft auf die Massenproduktion von Kriegsmaterial spezialisieren und damit sogar die Produktionskapazität der Erde übertreffen, zumindest was die Verfügbarkeit im Orbit angeht.

Nach jahrelangen Warnungen und Drohungen gegen die Einmischung von außen stellt die Erde der Solaren Koalition im Jahr 2326 ein Ultimatum.

Das Ultimatum bleibt unbeantwortet. Die Erd-Union sieht sich daher gezwungen, der Solaren Koalition den Krieg zu erklären.

Um die Propagandasendungen zu beenden, könnte die Erd-Union die Steuerzentralen in Mondbasen und L5-Habitaten mit den L1-Raumüberlegenheitskreuzern angreifen und besetzen. Die Erde hat zwei Jahre Vorsprung bei den Kriegsvorbereitungen, während die Solare Koalition im Wesentlichen davon ausgeht, dass "es nicht zum Äußersten kommen wird". Der Überfall käme überraschend und wäre deshalb erfolgreich.

Die Solare Koalition hätte mehrere Optionen für eine schnelle Antwort:

  • Falls das Weltraumkommando der Union die Kreuzer längere Zeit in Erdnähe behält, können die L1-Schattenblenden mit improvisierten Fernwaffen aus dem Bestand der Asteroidenminer angegriffen werden. Die Zerstörung der Blenden würde die Temperatur auf der Erde schnell um mehrere Grad ansteigen lassen, ein Albtraumszenario für das Gaia-Sanierungsprojekt.
  • Sollten sich die Kreuzer wieder schnell nach L1 zurückziehen, dann wäre der hohe Erdorbit (HEO) weitgehend ungeschützt. In diesem Fall könnten Trägersysteme mit oder ohne Sprengkopf Erdbeobachtungssatelliten im HEO und die orbitale Komponente der planetaren Verteidigung ausschalten. Das beträfe einige tausend Ziele und könnte eine Kessler-Kaskade im HEO auslösen.
  • Daraufhin würde die Erde mit mehreren tausend bodengestützten Raketen hunderte interplanetare Ziele gleichzeitig angreifen und hätte damit wohl weitgehend Erfolg, denn niemand im Raum ist auf einen großen Konflikt vorbereitet. Im weiten Sonnensystem sind zwar viele Akteure in der Lage, sich selbst gegen einzelne Übergriffe zu schützen, aber nicht gegen einen massiven Angriff mit Tausenden Raketen.
  • Je nachdem, wie groß der Schaden und die Verzweiflung wären, würde die Solare Koalition dann ihre wenig beachtete Notstandsklausel im Koalitionsvertrag aktivieren, die unter anderem eine "Zwangsverpflichtung von Mehrzwecktechnologien und deren Betreibern für den Einsatz in einer Bedrohungslage" vorsieht. Die Spiegelfelder der solaren Energielieferanten würden dann mit gebündelter Sonnenenergie die L1-Schattenblenden treffen und sogar Ziele auf der Erde angreifen. Auf der Tagseite der Erde wären Städte den neuen, 300 km großen Stellaser-Arrays mit mehreren Gigawatt pro Quadratkilometer im Zielgebiet hilflos ausgeliefert.
  • Gleichzeitig würden lunare EM-Katapulte die Erde massenhaft mit tonnenschweren Geschossen beschießen, jedes mit einer kinetischen Energie von 100 Tonnen TNT, äquivalent zu einer kleinen Atomwaffe, aber ohne die radioaktive Strahlung.
  • Megawatt-UV-Laser von der Sonne würden solange jede Gegenwehr unterbinden, die von der Erde ausgehen könnte. Die Zielerfassung über interplanetare Distanzen ist nicht einfach, da zwischen Sonne und Erde acht Lichtminuten liegen. Mit etwas Zeit könnte man kilometergroße Umlenkspiegel näher an die Erde heranbringen, um schneller auf dynamische Ziele reagieren zu können.
  • Aber in den zwei Jahren war die Erde nicht untätig. Sie hat Munitionspakete mit Trägersystemen in heliozentrischen (solaren) Umlaufbahnen positioniert, getarnt als Erd- oder Sonnenbeobachtungssatelliten und als Mining- und Forschungsmissionen. Diese Satelliten greifen die solare Energieinfrastruktur an. Die Solare Koalition, immer noch im Notfallmodus und nicht gut auf massive militärische Angriffe vorbereitet, muss zusehen, wie die großen fragilen Anlagen in sonnennahen Umlaufbahnen zerstört werden.
  • Danach kann die Erde ungehindert die Siedlungen im Sonnensystem angreifen und im Laufe der nächsten Jahre Tausende von interplanetaren Installationen entweder mit Fernraketen zerstören oder besetzen.
  • Der Konflikt würde bis zu 100 Millionen Opfer auf der Erde fordern und 20 Prozent der interplanetaren Siedlungen zerstören, mit etwa einer Million Opfern im Raum. Das Sonnensystem würde wieder der Erde gehören, aber die Entwicklung wäre um 200 Jahre zurückgeworfen.

In Wirklichkeit sind weder die Erde noch die interplanetaren Akteure daran interessiert, Ressourcen für einen interplanetaren Krieg aufzuwenden. Und die Erde will das Sonnensystem nicht zurückerobern, im Gegenteil, sie hat alle interplanetaren Operationen aufgegeben, um sich auf die Gaia-Sanierung zu konzentrieren. Die Kriegserklärung ist vor allem innenpolitisch motiviert und als starkes Signal an die irdischen Hardliner gedacht.

Die Reaktionen auf der Erde fallen sehr unterschiedlich aus.

  • Überall auf dem Planeten veranstalten Umweltaktivisten Kundgebungen zur Unterstützung der harten Linie der Regierung gegen die Einmischung von außen.
  • EarthFirst und viele andere radikale isolationistische Gruppen, feiern die Kriegserklärung mit Kundgebungen in großen Städten und fordern das Weltraumkommando der Union auf, die "aufsässigen Abkömmlinge" der Erde in ihre Schranken zu weisen.
  • Die Sendungen der Koalition führen zu einem Wiedererwachen expansionistischer Neigungen unter der jüngeren Generation (bis 50 Jahre), die unter den massiven Einschränkungen der Gaia-Sanierung aufwachsen musste und nun dagegen aufbegehrt. Weltweit gibt es Zusammenstöße zwischen Neo-Expansionisten und Neo-Sozialisten. Demonstrationen und Gegendemonstrationen enden oft in gewalttätigen Massen-Straßenkämpfen. Diese Kämpfe werden schon nach kurzer Zeit ritualisiert und regelbasiert durchgeführt. Es entsteht eine Subkultur mit einer langlebigen Tradition von "Fight-Clubs", bei denen der Begriff "Club" (Keule/Schläger) wörtlich genommen wird. Die Teilnehmer bekämpfen sich mit archaischen Schlagwerkzeugen, die früher schwere Verletzungen verursacht hätten. Aber jetzt schützen moderne Körperpanzer, die die Einschläge absorbieren und ihnen sogar entgegenwirken. Dabei kommt alles zum Einsatz, was die moderne Technik zu bieten hat: klassische Exoskelette mit integrierter Mikrofrakturheilung, Graphen-Filamentgitter mit Nano-Hydraulikdämpfern, Phononen-basierte Kontraimpuls-Systeme, Liquiform-Anzüge mit programmierbarer Viskosität, Reaktiv- und Proaktivpanzerung mit situationsbewusster KI. Aber trotz all der Technik brauchen Kämpfer/innen eine gute Konstitution und so viel Masse wie möglich. Für einige Zeit sind deshalb ehemalige Sumo-Ringer/innen mit Keulen und Hightech-Körperpanzerung im Samurai-Design die Stars der Szene. Der CCC (Club of Clubbing Clubs) organisiert Weltmeisterschaften in verschiedenen Gewichts- und Ausrüstungskategorien: Das Spektrum reicht von der A-Klasse ("Ashigaru"), Kickboxern mit Baseballschlägern und leichten Liquiform-Anzügen, bis zu den ultraschweren Mechas der Z-Klasse (Z für -zilla), in der alles erlaubt ist, solange es von einem Menschen gesteuert wird, auf zwei Beinen geht und nicht schießt.
  • Die Ostantarktische Föderation unterstützt offiziell die Position der Erd-Union, pflegt aber insgeheim Kontakte mit der Südpol-Allianz des Mondes und dem Shackleton-Sonnen-Kollektiv auf der Grundlage einer gemeinsamen "Südpolheit".

Nach der Kriegserklärung kommt es nur zu einer einzigen Kriegshandlung: Ein Oberst des Weltraumkommandos der Union lässt eine Railgun der planetaren Verteidigung auf eine unbemannte Frachtkapsel am Raumhafen Santiago feuern. Der Weltrat betrachtet die Aktion als unerwünschte Einzelaktion eines übereifrigen Offiziers und stoppt sofort weitere offensive Handlungen. Aber aus Sicht der Solaren Koalition demonstriert der Beschuss die Bereitschaft der Erde, ihren Drohungen Taten folgen zu lassen. Als Reaktion auf diese Eskalation beruft die Koalition eine virtuelle Notsitzung im erdnahen Raum ein. Angesichts der Möglichkeit einer katastrophalen Eskalation einigen sich die Führer der Koalition darauf, die Propagandasendungen zur Erde einzustellen. Gleichzeitig werden, über die Südpol-Verbindung, geheime Verhandlungen mit gemäßigten Fraktionen innerhalb der Unionsregierung aufgenommen.

Bei diesen Verhandlungen geht es vor allem darum, der Erd-Union einen gesichtswahrenden Ausweg zu ermöglichen. Ohne Zugeständnisse der interplanetaren Gemeinschaft kann der Weltrat die Kriegserklärung nicht zurücknehmen. Das ist nicht ganz einfach, denn im Sonnensystem gibt es keine einheitliche Regierung. Es gibt sehr viele unabhängige Siedlungen mit sehr unterschiedlichen Regierungsformen: Es gibt Demokratien, Info-Demokratien, Mitarbeiterräte von Weltraumunternehmen, nicht-repräsentative Unternehmensführungen (die sogar das Privatleben regeln), Militärjuntas, totalitäre Regierungen, Monarchien, Theokratien und anarchistische Gesellschaften. Das Sonnensystem ist groß, die Kommunikationszeiten werden in Stunden gemessen, und die meisten Stationen, Cluster, Volumen- oder Territorial-Souveränitäten sind stolz auf ihre Unabhängigkeit. Die Solare Koalition mit Sitz in Vegas/Luna ist eher ein Diskussionsforum der interplanetaren Mächte und nicht in der Lage, systemweite Zugeständnisse an die Erde durchzusetzen.

Nach zwei Jahren gelingt es dem Ganymed-Direktorat, einer führenden Macht im äußeren System, die durch ihre Entfernung von der Erde als neutral wahrgenommen wird, ein Abkommen auszuhandeln: Der Ganymed-Akkord von 2328 erkennt das Recht der Erde auf Isolation an und legt Regeln für die Beziehungen der Erde mit dem Rest des Sonnensystems fest. Gleichzeitig zieht die Erde ihre Kriegserklärung zurück und alle Seiten verpflichten sich zu einer Politik der Nichteinmischung.

Damit endet der erste interplanetare Krieg.

Zwei Jahre später, auf der Konferenz von Quadrupol, einem Habitat-Cluster am Lagrange-Punkt 4, verabschiedet die Solare Koalition die zukunftsweisende "Erklärung der Solaren Autonomie". Sie beendet die bisherige rückwärtsgewandte, nostalgische Vorstellung eines Sonnensystems mit der Erde als Mittelpunkt und richtet den Blick in eine Zukunft, die sich auf die Entwicklung einer interplanetaren Gesellschaft konzentriert.

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