2192 Die Zeit des antiexpansionistischen Terrors

Im frühen 22. Jahrhundert entsteht eine neue politische Ideologie, der Neosozialismus. Er ist geprägt von historischen Ereignissen des vorangegangenen Jahrhunderts und von ökologischen- und sozioökonomischen Herausforderungen, die sich für die Zukunft abzeichnen. Der Neosozialismus tritt erstmals um das Jahr 2113 in Erscheinung, kurz nachdem die Welt sich von einem verheerenden ökonomischen Zusammenbruch, bekannt als "Der Crash", erholt hat. Kern der Ideologie ist das nach der globalen Krise verbleibende Wohlstandsgefälle. Dazu kommen Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und insbesondere – in der neuen Form des Neo-Sozialismus – auch die Probleme der Entwicklung im Weltraum für die Erde.

Neosozialismus entstand aus einer Mischung von klassischem Sozialismus und Arbeiterrechtsbewegungen, ergänzt durch Kritik an den Kosten der Entwicklung im Weltraum, mit dem zusätzlichen Idee, das ganze Sonnensystem zum Naturschutzgebiet zu erklären. Befürworter argumentieren, dass alle verfügbaren Mittel für die Lösung von ökologischen Problemen und sozialen Ungerechtigkeiten auf der Erde ausgegeben werden sollten, statt in Weltraumforschung und -entwicklung zu fließen. Die unbekannten Autoren des ersten neosozialistischen Manifests kombinierten Umweltschutz mit Anti-Kapitalismus und Anti-Kolonialismus.

Neosozialisten protestieren gegen große Weltraumprojekte wie den Bau von großen rotierenden Habitaten, die als luxuriöser Wohnraum für die Wohlhabenden wahrgenommen werden. Auch der Sonnenschirm am L1-Punkt zwischen Sonne und Erde steht in der Kritik. Er wird als teure Behandlung von Symptomen angesehen, die nur von den Klimaproblemen der Erde ablenkt, ohne dauerhaft etwas zu verbessern.

Mit der Ausweitung der Weltraumoperationen wächst auch der Einfluss des Neosozialismus. Seine Basis sind die unzähligen Menschen, die desillusioniert sind durch die inzwischen jahrhundertelange Ausbeutung der Ressourcen der Erde. Auch der Aufschwung nach dem Crash verbraucht wieder zu viele Ressourcen, ohne dass das Wachstum des Bruttosozialprodukts der ganzen Bevölkerung zugutekommt. Diese Unzufriedenheit wird verstärkt durch die Aussicht, dass mit dem Wirtschaftswachstum im Weltraum nun das ganze Sonnensystem ausgebeutet werden soll und dass dabei wieder nur Großunternehmen und wohlhabende Menschen profitieren.

Der Neosozialismus ist keine einheitliche Bewegung. Viele unabhängige Organisationen operieren unter seinem Dach, jede mit ihren eigenen Schwerpunkten und Vorgehensweisen. Es gibt friedliche Proteste und gewaltsamen Demonstrationen. Manche versuchen durch Pressearbeit etwas zu bewegen, andere konzentrieren sich auf die Erziehung von Kindern, um langfristig ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Wieder andere versuchen mit konkreten Projekten Veränderungen herbeizuführen. Radiale Gruppen greifen zu Störungen von Weltraumoperationen, zu Sabotage und zu Terrorakten.

Gewalttätigen Fraktionen zielen auf die Weltrauminfrastruktur, auf Startsysteme, die Weltraumhäfen der Erde, auf Orbitalinfrastruktur, Satelliten, Habitate, Mondstationen und sogar auf das weit entfernte aber sehr teure Venus-Terraforming Projekt. Der schwerste Angriff im Weltraum ist der Angriff der Anti-Technologie-Terrororganisation "Technophage" auf den Sonnenschutz der Erde am Lagrange-Punkt 1 bei dem 10 % der Paneele mit fast 200.000 Quadratkilometern zerstört werden.

Die Phase des Terrors wird eingeleitet mit einer konzertierten Aktion im Jahr 2192. Radikale Neosozialisten führen mehrere Anschläge auf dem Mond durch, die zusammen 320 Menschenleben fordern. Für die damalige Zeit eine drastische Aktion. Aber das sollte sich später relativieren. Die Phase des neosozialistischen Terrors dauert bis etwa 2225. In diesem Zeitraum gibt es etwa 2.500 Angriffe mit insgesamt 70 Millionen Opfern, davon 40 Millionen allein in 11 nuklearen und biologischen Angriffen und 43.000 bei der Zerstörung des Dubai Kosmodroms.

Hier ist eine Sammlung bemerkenswerter Terrorakte während dieser Periode:

Der Stratosphären-Startplattform Vorfall: Im Jahr 2201 sabotieren Neosozialisten eine der wichtigsten Stratosphären-Startplattforme: Kituo-Angani, die "Himmelsstation" über dem Kilimandscharo. Die Terrorgruppe bringt die Plattform durch eine Kombination von Insider-Sabotage und Cyber-Angriffen zum Absturz. Die Aktion reduziert die Startkapazitäten der Afrikanischen Union für mehrere Jahre.

Die Zerstörung des Weltraumbahnhofs von Kairo durch eine nukleare Explosion im Jahr 2202 ist eine schockierende Eskalation. Hunderte Quadratkilometer werden für Jahrzehnte zu einer radioaktiven Wüste.

Geiselnahme im Mondhabitat: Der Überfall auf ein Habitat und seine Folgen im Jahr 2203 ist – von nuklearen und chemischen Angriffen abgesehen – eine der schockierendsten Aktionen. Bei diesem Angriff infiltriert eine Gruppe radikaler Neosozialisten ein prominentes Ruhestandshabitat auf dem Mond. Die Terroristen verschaffen sich als Wartungsarbeiter Zugang und übernehmen die Kontrolle über die Lebenserhaltungssysteme. Damit nehmen sie alle Bewohner des Habitats in Geiselhaft. Die Neosozialisten veröffentlichen ihre Forderungen: neben freiem Abzug sind das vor allem Verbesserungen in der Wohlstandsverteilung und Beschränkungen von Weltraumaktivitäten. Nach einer langen Pattsituation und einer misslungenen Befreiungsaktion sabotieren die Terroristen das Lebenserhaltungssystem des Habitats. Es kommt zu einem Druckabfall bei dem Hunderte unschuldiger Bewohner ihr Leben verlieren.

Im gleichen Jahr fällt die elektromagnetische Katapultstartanlage von Johannesburg noch in der Prototypenphase einem Sabotageakt zum Opfer. Eine künstlich ausgelöste Fehlfunktion während eines Frachtstarts führt zu großen Schäden und Verlusten an Menschenleben. Lina Mbeki, die Architektin des Katapults, überlebt mit schweren Verletzungen. Trotzdem muss sie ihre Karriere beendeten und das Katapult verliert damit seinen führenden Kopf, die wichtigste Problemlöserin und Visionärin.

Ein Jahr später gibt es einen biologischen Angriff auf den Raumhafen von Neu-Delhi, bei dem ein modifizierter Stamm des Influenzavirus freigesetzt wurde. Der Erreger ist so robust, dass die ganze Region und der Raumhafen für mehrere Jahre unter Quarantäne gestellt werden muss.

Die weltweit wichtigste Stratosphärenstartschleife, die majestätisch über dem Pazifischen Ozean rotierende Kaulahao Lani ("Himmelskette"), wird im Jahr 2206 sabotiert. Die Reparatur dauert viele Jahre und während dieser Zeit sind die globalen Startkapazitäten für Personal stark reduziert.

Im Jahr 2214 erleidet ein bedeutendes L5-Habitat, ein Kronjuwel der menschlichen Besiedlung des Alls, einen katastrophalen Systemausfall. Terroristen legen die Lebenserhaltungssysteme lahm, verhindern gewaltsam Evakuierungen und lassen damit sehr viele Menschen langsam sterben.

Zwei Jahre später wird ein Touristenresort auf dem Mars zum Tatort. Die Anlage, gelegen am Rand des Valles Marineris, dem größten Canyon des Sonnensystems, ist ein Symbol für die extravaganten Möglichkeiten, die den Superreichen der Erde offenstehen. Die Terroristen setzen einen genetisch veränderten Erreger frei, der fast alle Bewohner mit einer schrecklichen Krankheit infiziert. Das Resort wird geschlossen und dauerhaft unter Quarantäne gestellt. Nach diesem Vorfall werden in sehr vielen Raumfahrt-Einrichtungen auf der Erde und im Orbit Bio-Pathogen-Erkennungssysteme eingeführt.

Der Raumhafen von Nairobi/Kilimandscharo wird im Jahr 2218 Opfer eines zweiten brutalen Angriffs. Dieses Mal schlagen die Terroristen während einer prominent besetzten Startzeremonie zu und machen die feierliche Eröffnung zu einem tragischen Ereignis. Einige strategisch platzierte Sprengstoffe lösen eine gewaltige Treibstoffexplosion aus, die den Startkomplex verwüstet.

Im Jahr 2224 versinkt das Londoner Orbitaltransfer-Terminal, einer der belebtesten Personenzugänge zum All, in Angst und Schrecken: ein starkes Nervengift fordert viele Opfer und legt diesen globalen Hub für lange Zeit lahm.

Regierungen reagieren auf die Terroranschläge der Neosozialisten mit klassischen Gegenmaßnahmen, ähnlich denen, die schon immer gegen andere Formen der öffentlichen Störung und Terrorismus eingesetzt werden. Reguläre Polizei- und Strafverfolgungsbehörden verstärken die Überwachung von weltraumrelevanter Infrastruktur auf der Erde. Da Terroristen auch viele Ziele im Orbit und auf dem Mond angreifen, wird die Space Patrol verstärkt und mit modernen Angriffsfähigkeiten ausgestattet, um Bedrohungen schnell und effektiv zu neutralisieren.

Trotz der Welle der Gewalt wird die orbitale Entwicklung nicht signifikant gestört. Beschädigte Infrastruktur kann meistens schnell wiederhergestellt werden. Die dafür nötigen zusätzlichen Investitionen konterkarierten die eigentlichen Ziele der Neosozialisten. Für fast alle betroffenen Einrichtungen gibt es Alternativen, so dass man immer auf andere Startsysteme ausweichen kann. Einzelne Angriffe sind dadurch weitgehend unwirksam. Anstatt die öffentliche Meinung gegen die Weltraumaktivitäten einzunehmen, scheinen diese Terrorakte eher Unterstützung für Weltraumforschung und -entwicklung zu mobilisieren.

Ein Beispiel ist der Angriff der Anti-Technologie-Terrororganisation "Technophage" auf den Sonnenschutz der Erde (SCALE) bei dem 10% der Paneele zerstört werden. Um die ausgefallenen Paneele zu ersetzen, steigt das Budget des SCALE-Betreiberkonsortiums für ein Jahrzehnt stark an. Für den Ersatz der beschädigten Paneele werden neue Einheiten hergestellt und in den Orbit gebracht. Das Ausmaß der Produktion schafft viele neue Arbeitsplätze im orbitalen Fertigungssektor und lässt die Nachfrage nach Materialien, Technologien und Fachwissen rapide wachsen. Während die ursprünglichen Paneele aus lunarer Produktion stammten, wird das Material für die neuen Paneele nun in Asteroiden im Erdorbit abgebaut und in den neuen großen industriellen Auto-Fabs am L5-Lagrange-Punkt weiterverarbeitet. Diese unerwartete zusätzliche Nachfrage macht die neuen L5-Fabriken viel schneller profitabel als ursprünglich erwartet.

Die gewalttätigen Aktionen einiger neosozialistischer Fraktionen beschädigen das Image der gesamten Bewegung. Als Verbindungen zwischen neosozialistischen Terrorgruppen und einigen Regierungen bekannt werden, dreht sich die öffentliche Meinung. Obwohl einige Staaten, darunter die Mehrheit der indischen Bundesstaaten, von Neosozialisten dominiert werden, kann sich die Bewegung nie in der globalen Politik durchzusetzen. Zu Beginn des 22. Jahrhunderts boomt die Orbitalwirtschaft in Synergie mit dem High-Tech-Sektor der Erde und mit positiven Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Viele Menschen profitierten davon direkt oder indirekt. Damit geht der Einfluss der Neosozialisten weiter zurück. Mit dem zunehmenden Wohlstand verliert der Neosozialismus in seiner radikalen Form an Popularität. Für vier Jahrzehnte wird Neosozialismus zu einer Randerscheinung in der Politik.

Viel später, in der Mitte des 23. Jahrhunderts gewinnt der Neosozialismus dann als Gegengewicht zur Weltfreundschaftsbewegung wieder an Bedeutung. Die Weltfreundschaftsbewegung, die ursprünglich das Ziel hat, die Welt zu vereinen, gleitet in eine Diktatur ab. Eine internationale Koalition um neosozialistische Organisationen kann schließlich die Weltfreundschaftsdiktatur stürzten. In der Folge dieser Entwicklung wird der Neosozialismus zur dominierenden politischen Kraft und führt die Erde schließlich in die lange selbstgewählte Isolation.

Trotz der vielen bedrückenden Vorfälle und der zahlreichen Opfer erscheint die Zeit des neosozialistischen Terrors rückblickend nur als eines von vielen Kapiteln in der Geschichte der Menschheit auf dem Weg zu einer interplanetaren Gesellschaft. Während die Orbitalwirtschaft – und später die interplanetaren Aktivitäten – wuchsen, blieben auf der Erde gravierende Probleme ungelöst. Der Missbrauch von Umweltressourcen nahm weiter zu und ein großer Teil der Weltbevölkerung konnte nicht von der aufstrebenden Weltraumwirtschaft profitieren. Die extreme Gewalt, die von der Bewegung ausgeübt wurde, ist ein Indikator für den Bruch in der Gesellschaft und für die Verzweiflung derer, die nicht an der Raumfahrtentwicklung teilhaben konnten. Manche sehen die Phase des Terrors als Blitzableiter für eine gespaltene Gesellschaft an dem sich die Spannungen entluden, ohne wirkliche den Lauf der Geschichte zu ändern.

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