3353 Das Tor der Kontroverse

Der Krieg gegen die Schwarmvölker ist gewonnen. Die Schwärme sind marginalisiert. Sie sind keine Bedrohung mehr.

Die "Kontroverse" war die euphemistische Bezeichnung für den Krieg gegen die Chinti-Schwärme. Das Thema ist so wichtig, dass es im SolNet Hauptportal als Oberbegriff vertreten ist, neben den anderen Oberbegriffen wie "Nachrichten", "Unterhaltung" und "Wissen".

Die Priorität der Kontroverse wird nun herabgestuft. Das Kontroverse-Tor bleibt übergangsweise im Hauptportal. Aber seine Farbe wechselt vom typischen Brisk-Rot zu Grau. Zum ersten Mal seit dem Überfall der Chinti auf unser Sonnensystem vor 163 Jahren signalisiert das Hauptportal so die Herabstufung der Kontroverse und damit das offizielle Ende der Bedrohung.

Die Farbe Brisk-Rot, war seit eineinhalb Jahrhunderten dem Kontroverse-Thema vorbehalten. Zumindest in Implantat-basierten VR-Anreicherungen der Realität und in virtuellen Räumen. Seit der Entdeckung der tetrachromaten Hirnareale beim Menschen im frühen 23. Jahrhundert gehörte die vierte Grundfarbe Brisk zum Gestaltungspielraum von graphischen Schnittstellen. Brisk und seine Mischfarben mit den anderen drei Grundfarben erweitern den möglichen Farbraum gewaltig. Es gibt buchstäblich zehn Mal mehr oder sogar hundert Mal mehr Farben als mit nur drei Grundfarben. Eine ungeheure Vielfalt, die seit über 1000 Jahren selbstverständlich ist. Und von all diesen zusätzlichen Farben war reines Brisk-Rot immer ein Synonym für die Kontroverse, also für alles, was mit der Abwehr der Chinti-Schwärme zu tun hatte.

Fast eineinhalb Jahrhunderte waren die Chinti im öffentlichen Bewusstsein der Menschheit eine existentielle Bedrohung. Nicht nur die Wirtschaft war auf Kriegsproduktion eingestellt. Auch in den Netzen war die Kontroverse stets präsent. Das spiegelte sich in unzähligen Interfaceelementen wider, von offensichtlichen, wie dem Kontroverse-Tor im SolNet-Hauptportal bis zu unterbewussten, aber immer verfügbaren Optionen in virtuellen Räumen.

Die Auseinandersetzung mit den Chinti reichte in alle Lebensbereiche. Sogar bis in virtuellen Welten, die nur der Unterhaltung dienten. Irgendwo war immer ein Hinweis auf die Kontroverse. Die Visualisierung passte sich an die Umgebung an. Mal erschien der Hinweis auf die Kontroverse als brisk-rote Tür am Rathaus einer mittelalterlichen Stadt. Ein anderes Mal als brisk-rotes Gebäude am Horizont, beim Blick aus dem virtuellen Tageslichtfenster der Displaywand.

Zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage können Bürger den Status der Kontroverse abfragen, um eine aktuelle Einschätzung der Lage zu erhalten. Der Anfragepfad hinter dem Kontroverse-Tor geht aber noch viel weiter. Auch alle Recherchen im technischen und wirtschaftlichen Bereich sind darüber erreichbar. Außerdem, die Registrierungen für News-Feeds, der Zugang zu historischen und spekulativen Simulationen, die Meldeschnittstellen für konfliktrelevante Optimierungen und Maßnahmen und vieles andere mehr.

Während der Kontroverse konnte sich der Bedrohungsstatus jederzeit ändern. Die Chinti-Schwärme und die Völker der Menschen und ihrer Verbündeten befanden sich über 100 Jahre in einem sehr intensiven, hochdynamischen und unter gigantischem Ressourceneinsatz geführten Konflikt. Immer wieder wurden ganze Sonnensysteme innerhalb weniger Wochen evakuiert. Auch in den üblichen virtuelle Arbeits- und Freizeitumgebungen musste es möglich sein, jederzeit und schnell alle Menschen zu alarmieren. Deshalb war gesetzlich vorgeschrieben, dass alle virtuellen Welten an das lokale Alarmierungsnetzwerk angeschlossen sein müssen und in Echtzeit die entsprechenden Interfaceelemente bereitstellen. Die Visualisierungen waren meistens immersiv angepasst. In einer Mittelalter-Welt etwa als brisk-rote Fahne am Turm der Burg oder als brisk-rotes Retro-2D-Display in historischen 21. Jahrhundert-Dokumentationen. Und in der realen Welt konnte das Sehnerv-Implantat jederzeit irgendwo ein brisk-rotes V-Tag einblenden.

Normalbürger des 34. Jahrhunderts sind wesentlich intelligenter als ein Jahrtausend zuvor. Nicht die Evolution hat die Menschen verbessert, sondern gezielte genetische Veränderungen und ausgefeilte technische Mittel. Das verfügbare Wissen ist viel größer, weil man durch Implantate immer Zugriff auf das Netz hat. In mehreren parallelen Denkvorgängen können Menschen gleichzeitig etwas lernen, kommunizieren und kreativ arbeiten. Ganz wichtig waren Fortschritte in der KI-gestützten Assoziation. Die Assoziationsfähigkeit der Menschen liegt weit über den Möglichkeiten des originalen Human-Genoms ohne technische Erweiterungen. Moderne Menschen wären zu Beginn des dritten Jahrtausends Genies mit einem IQ über 180. Im 4. Jahrtausend ist das normal. Und die KI-gestützte Assoziation hat einen großen Anteil daran.

Moderne Menschen vergessen nie an etwas zu denken. Sie übersehen keine Zusammenhänge. Egal bei welchen Tätigkeiten, in allen technischen, sozialen und kreativen Bereichen, ist das Denken an direkte Zusammenhänge und an indirekte Auswirkungen immer präsent. Niemand tut etwas, ohne sich aller Konsequenzen bewusst zu sein, zumindest, solange man das will. Diese Art der vollständigen Assoziation ist auch den modernen Menschen des 34. Jahrhunderts nicht von der Natur gegeben, nicht einmal von ihrer genoptimierten Natur. Vollständige Assoziation wird künstlich erzeugt. Ständig überwachen die KIs der Implantate die parallelen Denkprozesse des Multitasking-Bewusstseins. Sie durchsuchen in Echtzeit das verfügbare Wissen in öffentlichen und privaten Datenbeständen. Sie suchen Verknüpfungen und berechnen Auswirkungen. Entdeckt eine Assoziations-KI einen Zusammenhang, dann meldet sie das Ergebnis als spontanen Gedanken in einen der laufenden Denkprozesse. Das wirkt so als ob man ganz natürlich selbst daran gedacht hätte. Der Mensch kann den Gedanken dann selbständig weiterverfolgen, mehr Informationen abfragen und Recherche-Bots abspalten, um das Thema zu vertiefen. Oder er kann die Idee auch einfach verwerfen.

Handlungen einzelner Menschen können Auswirkungen auf den Konflikt haben und umgekehrt beeinflusst der Konflikt mit den Chinti das Leben aller Menschen. Die Assoziationsschnittstelle zum Kontroverse-Thema sorgt dafür, dass tatsächlich jede Konsequenz und jede Möglichkeit bedacht wird. Ingenieure, die ein technisches Gerät optimieren, denken dann automatisch daran, wenn die optimierte Variante in der Kontroverse hilfreich wäre. Jede Entdeckung und Erfindung, jede Optimierung eines zivilen Herstellungsprozesses und jede neue Taktik in einem VR-Spiel wird automatisch auf ihre Relevanz für die Kontroverse geprüft. Mit anderen Worten: auf ihre Kriegstauglichkeit. Das geschieht ohne zusätzliche Anstrengung, allein durch den allgegenwärtigen und selbstverständlichen Vorgang der vollständigen Assoziation, bei dem alles Wissen der Menschheit berücksichtigt wird. Die KIs arbeiten und helfen, während die Menschen leben.

So waren alle Menschen, aber auch Uploads, Mechs, Infosophonten und Wesen anderer Völker der menschlichen Sphäre, in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten ständig bewusst oder unterbewusst mit dem Kontroverse-Thema verbunden. Durch explizite brisk-rote grafische Hinweise, durch das ständige Mitlesen von Nachrichten in einem Strang ihres Multitasking-Bewusstseins oder indem sie sich automatisch aller Zusammenhänge bewusst werden, sobald die Assoziations-KI ein Ergebnis liefert.

Jetzt wird die Priorität des Themas herabgestuft. Damit verschwinden die allgegenwärtigen Hinweise auf die Kontroverse aus dem öffentlichen Raum. Die brisk-roten Türen in Mittelalter-Simulationen ändern ihre Farbe und der brisk-rote Berg am Horizont einer virtuellen Urlaubswelt verschwindet. Brisk-rote Elemente in visuellen Anreicherungen der Realität werden anders übersetzt. Für die Bürgerinnen und Bürger des Imperiums, die fast immer mit dem Netz verbunden sind, ist die Herabstufung ein deutlich sichtbares Zeichen, dass endlich Frieden ist.

Sichtbar wird die Änderung auch am SolNet-Hauptportal. Über das Hauptportal sind alle Funktionen, Ebenen und Welten des Netzes zu erreichen. Das Hauptportal ist letztlich ein riesiges tief geschachteltes Menu mit Querverweisen.

Die konkrete Visualisierung des Portals hängt von den persönlichen Einstellungen der Benutzer ab: als alte Bibliothek mit Büchern, als Sammlung von Hallen mit Türen, in 2D oder 3D. In der Standardform, ohne jede Konfiguration und Individualisierung, ist das Hauptportal eine große dreidimensionale Halle, in der eine Darstellung des Netzes schwebt. Jeder bekannte Inhalt des öffentlichen Netzes ist als Symbol vertreten. Verbindungen erscheinen als Zugangswege für die Avatare der Benutzer.

Das Netz erstreckt sich vom Eingangsbereich scheinbar bis in die Unendlichkeit. Eine gigantische Wolke von animierten dreidimensionalen Symbolen und ihren Verbindungswegen, gruppiert nach Themen und Unterthemen in vielen verschiedenen parallelen Taxonomien und Ontologien für menschliche und andere Denkweisen. Und ganz unten, vorne im Eingangsbereich, sind die Zugangstore zu den primären Themenkomplexen. Eines davon ist die Kontroverse. Es ist das Tor in Brisk-Rot.

Die Standardvisualisierung hat sich seit Jahrhunderten nicht geändert. Das war auch nicht nötig, denn niemand benutzt wirklich das Portal in dieser Form. Ohne einen der unzähligen Präsentationsskins und ohne eine persönliche Priorisierung der Themen.

Normalerweise benutzt sowieso fast niemand das Hauptportal. In jeder Lebenslage kann man direkt auf vorgemerkte Inhalte zugreifen. Man kann virtuelle Welten betreten, ohne über das Hauptportal zu gehen. Man kann Zusatzinformationen als Überlagerung der Realität visuell einblenden oder gleich als Gedanken in das Bewusstsein einspeisen lassen. Das Hauptportal ist eigentlich überflüssig. Es ist eine alte, automatisch erzeugte Visualisierung des Netzes. Sie läuft unauffällig mit Myriaden anderen niedrig priorisierten Prozessen in SolNet und wird über öffentliche Budgets unterhalten.

Mit der Herabstufung der Kontroverse verschwinden überall fast gleichzeitig die brisk-roten Interfaceelemente. Die News-Feeds melden das Ereignis. Die Assoziations-KIs erhöhen die Relevanzschwelle und senken damit die Frequenz ihrer Vorschläge. Die Herabstufung der Kontroverse ist ein multi-System-weites Ereignis. Es wird von 100 Milliarden Wesen fast gleichzeitig wahrgenommen. Die meisten Menschen wissen natürlich, was das bedeutet. Schließlich wurden die Nachrichten von der Kontroverse in den letzten Jahren immer besser. Trotzdem kommt die Änderung überraschend. Seit Generationen waren die brisk-roten Elemente immer präsent. Jetzt sind sie weg.

Viele besuchen deshalb jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben das Hauptportal des Netzes. Sie schalten ihre Individualisierungen ab, um die Standardvisualisierung zu sehen. Ihre Avatare erscheinen im Eingangsbereich des SolNet. Dort unten, wo die Tore des Hauptmenus in die Wolke der Netzinhalte führen, treffen sie sich. Abermillionen Avatare erscheinen. Der Eingangsbereich wird für so viele Besucher dynamisch erweitert. Er wird selbst zu einer riesigen Halle. Und alle sehen mit ihren eigenen Augen und Optiken, dass das Tor der Kontroverse nicht mehr Brisk-Rot ist. Es ist jetzt grau. Das Kontroverse-Tor hat die Farbe der temporären Themen angenommen. Das Grau symbolisiert, dass das Tor bald aus dem Eingangsbereich entfernt wird. Seit der Herabstufung verlinkt das Tor nur noch in die Tiefe der Netzvisualisierung. Die Inhalte der Kontroverse liegen nicht mehr direkt hinter dem Tor, sondern schon jetzt hinter den anderen primären Themen.

Der Krieg ist vorbei. Alle können es sehen.

Der sonst schwach besuchte Eingangsbereich des SolNet-Portals wird zur Party-Zone.

Es ist die größte Party in der Geschichte der Menschheit.

Buch

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